Kritik an Nahrungsergänzungsmitteln
Mit dem reißerischen Titel „Der Pillen-Schwindel. Vitaminkapseln, Fischöl & Co. Teuer, nutzlos – und oft gefährlich“ kritisiert DER SPIEGEL (Heft 23/2023) den Einsatz von Mikronährstoffpräparaten. Dabei geht der Autor nach bewährten Boulevardjournalismus-Methoden vor: Er zitiert einige Wahrheiten isoliert und presst sie in den gewünschten Zusammenhang. Am Ende muss der Leser zu der Meinung kommen, die man ihm damit suggeriert, nämlich dass Vitaminpräparate nicht nur sinnlos sind, sondern auch gefährlich.
Grundsätzlich sind die kritischen Äußerungen korrekt. Auch Mikronährstoff-Experten betonen immer wieder, dass es wichtig ist, eine Mikronährstofftherapie auf Basis fundierten Wissens und guter Labordiagnostik durchzuführen. Möchte man das Thema aber vollständig beleuchten, sollte man auch die positiven Seiten thematisieren und von einem fachgerechten Einsatz ausgehen. Gefragt ist eine differenziertere Auseinandersetzung – wie die folgende.
Nahrungsergänzungsmittel: Studien nicht unter den Teppich kehren!
Die Anzahl an wissenschaftlichen Belegen (Evidenz) für den Nutzen von Nahrungsergänzungsmitteln ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Das scheint der SPIEGEL-Autor allerdings nicht verfolgt zu haben. Er betrachtet kritische Aussagen von Fachgesellschaften, Verbraucherzentralen und Ernährungswissenschaftlern isoliert, ohne all die Situationen zu bewerten, in denen Nahrungsergänzungsmittel sinnvoll sind.
Ernährungswissenschaftler und Ernährungsmediziner, die dem reflektierten Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln positiv gegenüberstehen, wie Prof. Biesalski, werden nicht zitiert. Auch hochwertige wissenschaftliche Studien fehlen im SPIEGEL-Artikel. Jedoch wird darauf hingewiesen, dass Informationen über Influencer auf Instagram und Co. oft falsch sind – alles Dinge, die Mikronährstoff-Experten ebenfalls seit Jahren anprangern.
Ungesunde Ernährung: Folgen für die Mikronährstoffversorgung?
Jegliche positive Stellungnahme zu Nahrungsergänzungsmitteln wird konsequent vermieden – somit auch die Aussage, dass es durchaus einen Mangel geben kann. Stattdessen schreibt der SPIEGEL-Autor: „Wo aber grundsätzlich kein Mangel herrscht, gibt es auch nichts zu ergänzen.“ Wenn man sich ausgewogen ernährt, stehe dem Körper in der Regel alles zur Verfügung, was er braucht. Theorie und Praxis liegen aber leider oft auseinander.
Zum Beispiel ist deutlich belegt, dass die moderne Ernährungsweise im Alltag von einer gesundheitlich optimalen Ernährung abweicht. Es werden weit weniger Mikronährstoffe aufgenommen als theoretisch möglich, – stattdessen aber viel Zucker und ungesunde Fette. Beispielsweise rät die Weltgesundheitsorganisation, nicht mehr als 26 Gramm Zucker pro Tag zu verzehren. Auf das Jahr hochgerechnet sind dies 9 Kilogramm. In der Realität werden in Deutschland aber knapp 35 Kilogramm Zucker pro Jahr aufgenommen. Ähnliches gilt für schädliche Transfette. Sie sind in verarbeiteten Lebensmitteln enthalten – zum Beispiel in Pommes frites und Fertigsoßen sowie in Backwaren wie Croissants und Müsliriegeln. Der Konsum von Fastfood und mikronährstoffarmen Fertigprodukten hat in den letzten Jahren massiv zugenommen.
Nahrungsergänzungsmittel sind sinnvoll: Beispiel Folsäure
Laut Meinung des SPIEGEL-Autors sind Nahrungsergänzungsmittel nur in den wenigsten Fällen angebracht. Als Beispiel nennt er Schwangere, die Folsäure ergänzen sollten, um ihre Kinder vor Neuralohrdefekten zu schützen. Allerdings lässt der Autor die Kenntnis außer Acht, dass sich das Neuralohr bereits in der 7. bis 8. Schwangerschaftswoche schließt. Beginnt man mit der Folsäureeinnahme erst, wenn die Schwangerschaft festgestellt worden ist, kann es zu spät sein. Hinzu kommt: Die Antibabypille verringert den Folsäurespiegel im Blut. Wird die Frau direkt nach dem Absetzen der Pille schwanger, besteht für das Kind ein noch höheres Risiko. Dies zeigt, dass man nicht ohne Fachkenntnis über Nahrungsergänzungsmittel urteilen sollte.
Ausblenden darf man auch nicht die Erfolge: In den Vereinigten Staaten von Amerika sowie Kanada wird Mehl mit Folsäure angereichert. Dadurch ging in Kanada die Zahl der Neuralrohrdefekte von über 5.000 Fällen auf 1.800 pro Jahr zurück. Viele Erkrankungen und die Einnahme von Medikamenten sind nachweislich mit einer schlechten Mikronährstoffversorgung verbunden.
Mangel an Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren weit verbreitet
Einige Mängel sind individuell, andere betreffen größere Teile der Bevölkerung. Laut Daten des Robert Koch-Instituts aus dem Jahr 2015 herrscht in der gesamten europäischen Bevölkerung mit besorgniserregender Häufigkeit eine suboptimale Vitamin-D-Versorgung, welche in Bezug auf die öffentliche Gesundheit Maßnahmen erfordern würde. Lediglich bei 12 Prozent der getesteten Erwachsenen in Deutschland war der Vitamin-D-Wert optimal. Bei 27 Prozent war er suboptimal, während 31 Prozent einen Mangel hatten und 30 Prozent sogar einen starken Mangel. Wenn der SPIEGEL-Autor schlussfolgert, die Bevölkerung habe keinen Mangel, kann das daher nur als manipulativ bezeichnet werden.
Der durchschnittliche Omega-3-Index liegt in Deutschland bei 4,8 bis 5,2 Prozent. Er gibt an, wie gut man mit Omega-3-Fettsäuren versorgt ist. Dazu gibt es über tausend Publikationen in wissenschaftlichen Datenbanken. Als optimal für die Herz-Kreislauf-Gesundheit wird ein Omega-3-Index von über 8 Prozent angenommen. Bei chronischen-entzündlichen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis könnten sogar über 10 Prozent vorteilhaft sein. Forscher kamen durch eine Studienauswertung zum Ergebnis, dass laut 82 Prozent aller hochwertigen Studien (RCT), die in den letzten neun Jahren veröffentlicht worden sind, ein Nutzen für Omega-3-Fettsäuren besteht.
Diese zwei Beispiele zeigen: Wir haben teils stichhaltige Beweise. Warum wird dennoch der Nutzen allgemein als nicht vorhanden dargestellt? Vielmehr muss man den Fragen nachgehen, warum einige Personen mehr profitieren als andere.
Nahrungsergänzungsmittel: Wechselwirkungen mit Medikamenten
Des Weiteren warnt der SPIEGEL-Autor vor Problemen, wenn Nahrungsergänzungsmittel mit Medikamenten eingenommen werden. Substanzen aus Ginkgo bei Alzheimer-Demenz etwa könnten zusammen mit Blutverdünnern Komplikationen hervorrufen. Auch beeinträchtigen Nahrungsergänzungsmittel bei Krebs möglicherweise die Wirkung einiger Krebstherapien. Selbstverständlich hat der SPIEGEL-Autor auch hier recht, dass Vitaminpräparate – ohne Fachwissen eingesetzt – ungünstig auf chronische Erkrankungen wirken oder Wechselwirkungen mit Medikamenten haben können.
Die zwei Seiten einer Medaille werden jedoch nicht gezeigt: Laut einigen Studien könnten unter anderem Vitamin C, Vitamin E, Curcumin, Grüntee-EGCG (Epigallocatechingallat), Sulforaphan aus Kohlgemüse und Melatonin auch positive Wirkungen bei Krebs haben und die Nebenwirkungen der Krebstherapie reduzieren. Autoren solcher Studien zeigen immer sowohl die kritischen als auch die vielversprechenden Ergebnisse auf und fordern weitere Studien. Daher lohnt es sich, seriöse Quellen zu zitieren und die Studien vollständig zu lesen.
Gute Nahrungsergänzungsmittel: Qualität und rechtliche Regelungen
Es ist inzwischen klar, dass mindestens 20 Prozent der Nahrungsergänzungsmittel mit dopingrelevanten und anderen kritischen Substanzen verunreinigt sind. Die schlechte Qualität vieler, vor allem ausländischer Präparate wird in der Mikronährstoffmedizin ebenfalls angeprangert. Auch, dass immer wieder Hersteller mit unzulässigen Werbeversprechen ihre Produkte anpreisen, ist nicht von der Hand zu weisen.
Daneben können Vitamine selbstverständlich überdosiert werden. In den letzten Jahren wurden immer wieder Vergiftungsfälle durch Vitamine erfasst, insbesondere durch Vitamin D. Die Literatur belegt, dass eine Vitamin-D-Vergiftung selten vorkommt. Die Ursachen liegen meistens in Herstellungsfehlern oder Unwissen. Die Forderung nach Sicherheit muss man daher unbedingt unterschreiben.
Natürlich wird man mit Nahrungsergänzungsmitteln nicht gesünder, wenn man bereits gesund ist – es braucht einen Grund (Indikation). Daraus jedoch zu schlussfolgern, dass Nahrungsergänzungsmittel unnötig sind, ist schlicht und ergreifend Unsinn. Denn der reflektierte Einsatz von Mikronährstoffen bei bestehender Indikation ist keineswegs sinnlos. Es gibt sehr wohl einen therapeutischen Nutzen!
Fazit: Nahrungsergänzungsmittel, sinnvoll eingesetzt, fördern die Gesundheit
Selbstverständlich sind Mikronährstoffe kein Allheil- oder Wundermittel. Wer gut versorgt ist, braucht sicher keine zusätzliche Versorgung. Aber bei Personen mit einem Mangel trägt ein Ausgleich wesentlich zur Gesundheit bei. Unsere Ernährung ist in der Realität so weit von den Forderungen der Fachgesellschaften entfernt, dass Mängel häufiger sind als angenommen. Zahlreiche Untersuchungen – auch von offiziellen Stellen – untermauern das. Chronische Erkrankungen und Medikamente steigern den Bedarf teils zusätzlich.
Schwarze Schafe unter Nahrungsergänzungsmittel-Herstellern gab und gibt es immer. Aber ihretwegen alle anderen, die immer seriös arbeiten, an den Pranger zu stellen, geht zu weit. Eine gute Versorgung mit Vitamin D oder die systematische Anreicherung von Lebensmitteln könnte allein in Europa mehr als hunderttausend krebsbedingte Todesfälle pro Jahr verhindern. Das ermittelten Wissenschaftler vom Deutschen Krebsforschungszentrum mithilfe statistischer Modellrechnungen. In Skandinavien wird dies bereits umgesetzt. Ein Paradigmenwechsel ist auch in Deutschland gefragt.
Für eine wirksame und sichere Mikronährstofftherapie ist eine gute Fortbildung der Therapeuten unverzichtbar. Die individuelle Situation sollte vorrangig betrachtet werden. Dazu gehören eine gute Labordiagnostik und angepasste Empfehlungen. Sachverstand und personalisierte Medizin sollten im Vordergrund stehen – die sogenannte integrative Medizin ist daher wichtig. Vitamine und Co. sind ein Teil davon und DER SPIEGEL kann dies offensichtlich nicht seriös bewerten.
Verzeichnis der Studien und Quellen
Blech, J. (2023): Der Pillen-Schwindel. Vitaminkapseln, Fischöl & Co.: Teuer, nutzlos – und oft gefährlich. https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/nahrungsergaenzungsmittel-warum-supplemente-fast-immer-ueberfluessig-sind-a-59d68a69-dc11-475d-b608-bbc1aa798fd1, abgerufen am: 13.06.2023.
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