Im Mutterleib sind Ungeborene zahlreichen Einflüssen ausgesetzt – positiven wie negativen. Dazu gehören auch Stoffe, die den Hormonhaushalt nachteilig beeinflussen, sogenannte endokrine Disruptoren (EDs). Sie führen beispielsweise zu Fehlfunktionen des Schilddrüsenhormonsystems. Davor kann eine ausreichende Jodversorgung schützen.
Jod: wichtiges Spurenelement
Das Spurenelement Jod ist lebensnotwendig, da es als Baustein der Schilddrüsenhormone (T3 = Trijodthyronin und T4 = Thyroxin) dient. Diese wiederum regulieren zahlreiche Stoffwechselfunktionen wie zum Beispiel die Zellteilung, damit auch das Körperwachstum, und außerdem den Energiestoffwechsel.
Schwangere benötigen mehr Jod, da sie auch das ungeborene Kind versorgen müssen. Daher liegt der Bedarf von schwangeren Frauen laut Deutscher Gesellschaft für Ernährung (DGE) bei 230 Mikrogramm Jod pro Tag. Während in der sehr frühen Schwangerschaftsphase mütterliche Schilddrüsenhormone den Embryo mitversorgen, produziert das Baby ab der zehnten bis zwölften Schwangerschaftswoche seine Schilddrüsenhormone selbst. Das dafür benötigte Jod erhält es über das Nabelschnurblut.
Gehirnentwicklung benötigt ausreichend Jod
Ganz besonders wichtig sind die Schilddrüsenhormone für die Reifung des kindlichen Gehirns. Babys, die während ihrer Entwicklung an einer Jodunterversorgung leiden, zeigen eine verzögerte Gehirnentwicklung. Bei einem schweren Jodmangel droht Kretinismus, der durch unumkehrbare Hirnschäden sowie eine eingeschränkte psychische und körperliche Entwicklung gekennzeichnet ist. Aber bereits ein milder Jodmangel im Mutterleib und während der ersten Lebensjahre wirkt sich ungünstig auf die Gehirnentwicklung aus. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist ein Jodmangel die häufigste Ursache für vermeidbare frühkindliche Hirnschädigungen.
Endokrine Disruptoren bringen Hormonhaushalt durcheinander
Nun haben Forschende der Europäischen Gesellschaft für Endokrinologie –Endokrinologen sind Fachleute für Hormone – vor endokrin wirksamen, also den Hormonhaushalt beeinflussenden, Chemikalien gewarnt. Sie sehen diese als eine Bedrohung für die Hormongesundheit.
Sie fordern, die Gesamtexposition des Menschen (Exposition = Gesamtheit aller Umwelteinflüsse, denen man ausgesetzt ist) gegenüber endokrin negativ wirkenden Stoffen, also endokrinen Disruptoren, zu minimieren. Denn sie sehen Gefahren insbesondere für die Schilddrüsen- und die Keimdrüsenfunktion (Keimdrüsen umfassen Eierstöcke und Hoden).
Verzögerte Sprachentwicklung durch endokrine Disruptoren
Babys können in ihrer Gehirnentwicklung schwer beeinträchtigt werden, wenn sie im Mutterleib durch endokrin schädigende Stoffe stark belastet sind. Denn endokrine Disruptoren verändern den Hormonstoffwechsel der Schilddrüse und können beispielsweise zu einer Über- (Hyper-) oder Unterfunktion (Hypothyreose) der Schilddrüse führen.
Josef Köhrle vom Institut für experimentelle Endokrinologie an der Charité Universitätsmedizin in Berlin, ein Mitautor der Studie, spricht von einer dreifach verzögerten Sprachentwicklung im Alter von sieben bis zehn Jahren bei betroffenen Kindern. Der Spezialist beschäftigt sich mit krankhaften Veränderungen des Hormonhaushaltes der Schilddrüse. Um insbesondere Schwangere und Kinder zu schützen, fordert er eine bessere Jodversorgung dieser Gruppen.
Anstieg bei Hodenkrebs: Folge von hormonverändernden Stoffen?
In allen Industrieländern ist die Häufigkeit von Hodenkrebs in den vergangenen Jahren massiv angestiegen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit Hormonen und endokrinen Disruptoren beschäftigen, vermuten als mögliche Ursache die Wirkung von Stoffen, die den Hormonhaushalt verändern. Sind männliche Babys im Mutterleib Stoffen ausgesetzt, die männliche Sexualhormone (Androgene) in ihrer Wirkung hemmen, könnte das später zu Hodenkrebs führen. Offenbar sind männliche Babys von endokrinen Disruptoren stärker betroffen als weibliche.
Info
Welche Stoffe zählen zu den endokrinen Disruptoren?
Etwa 50 Chemikalien gelten als Stoffe, die sich schädigend auf den Hormonhaushalt auswirken. Dazu zählen: Kunststoffe wie Bisphenol A oder Phthalate (Weichmacher), bestimmte Konservierungsstoffe und Tenside (waschaktive Substanzen), Pflanzenschutzmittel (Pestizide) oder auch Flammschutzmittel.
Die WHO definiert endokrine Disruptoren (ED) folgendermaßen: „Ein ED ist ein körperfremder Stoff oder ein Gemisch, der/das die Funktion(en) des endokrinen Systems (= Hormonsystems) verändert und infolgedessen schädliche Auswirkungenauf die Gesundheit eines gesunden Organismus, seiner Nachkommen oder von (Teil-)Populationen verursacht.“
Verzeichnis der Studien und Quellen
Ärzteblatt.de (online). Schilddrüsenfunktion unter endokrinen Disruptoren: Schwangere und Ungeborene brauchen den Schutz durch Jod. 18.07.2024 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/153016/Schilddruesenfunktion-unter-endokrinen-Disruptoren-Schwangere-und-Ungeborene-brauchen-den-Schutz-durch-Jod, abgerufen am 28.08.2024.
Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE): Jod. https://www.dge.de/wissenschaft/referenzwerte/jod/, abgerufen am 28.08.2024.
Köhrle J & C Frädrich. Thyroid hormone system disrupting chemicals. Best Pract Res Clin Endocrinol Metab. 2021 Sep; 35 (5): 101562. https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1521690X21000798?via%3Dihub, abgerufen am 28.08.2024.
Reincke M et al. Endocrine disrupting chemicals are a threat to hormone health: a commentary on behalf of the ESE. Nat Rev Endocrinol. 2024 Apr; 20 (4): 187-188. doi: 10.1038/s41574-024-00958-0. https://www.nature.com/articles/s41574-024-00958-0, abgerufen am 28.08.2024.
Remer, T., Johner, S.A., Gärtner, R., Thamm, M., Kriener, E. Iodine deficiency in infancy a risk for cognitive development [Jodmangel im Säuglingsalter ein Risiko für die kognitive Entwicklung] (2010) Deutsche Medizinische Wochenschrift, 135 (31-32), pp. 1551-1556. DOI: 10.1055/s-0030-1262446 https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/1281/20HicHAfVKY3A.pdf, abgerufen am 28.08.2024.
Street ME et al. The impact of environmental factors and contaminants on thyroid function and disease from fetal to adult life: current evidence and future directions. Front Endocrinol (Lausanne). 2024 Jun 19: 15: 1429884. doi: 10.3389/fendo.2024.1429884. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC11219579/ oder https://www.frontiersin.org/journals/endocrinology/articles/10.3389/fendo.2024.1429884/full, abgerufen am 28.08.2024.