Die Rolle der Darmflora bei COVID-19

Können Probiotika die Folgen einer Coronainfektion minimieren?

Arzt hält Globus in den Händen
Auch nach mehr als einem Jahr hat die Corona-Pandemie die Welt fest im Griff. Trotz Impfangebot steigen die Fallzahlen in Deutschland wieder an. Bild: iStock.com/nito100

Coronavirus: Bedeutung der Darmflora

Am Anfang der Coronapandemie galt das Coronavirus (SARS-CoV-2) hauptsächlich als Virus, das die Lunge befällt. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass es sich um ein „Multi-Organ-Virus“ handelt: Nicht nur die Lunge, sondern auch Herz, Leber und Darm können betroffen sein. So vermehrt sich das Coronavirus ebenfalls im Magen-Darm-Trakt. Viele COVID-19-Patienten leiden unter Magen-Darm-Beschwerden wie Krämpfen oder Durchfall.

Der Magen-Darm-Trakt ist das größte immunologische Organ. Es gibt viele wechselseitige Beziehungen zwischen den im Darm ansässigen Bakterien (Darmflora oder Mikrobiota) und der Immunaktivität in anderen Organen. So spricht man zum Beispiel von einer Darm-Lungen-Achse. Bekannter dürfte die Verbindung zwischen Darm und Gehirn sein – die sogenannte Darm-Hirn-Achse.

Zudem ist die Darmflora entscheidend für die Durchlässigkeit der Darmbarriere: Eine gesunde Darmflora kann verhindern, dass Viren und krankmachende Bakterien oder ihre Stoffwechselprodukte vom Darm ins Blut gelangen. Der Darm reguliert außerdem die Reaktionsfähigkeit des Immunsystems: Er bereitet es vor, aktiviert oder dämpft es. So läuft eine Immunantwort kontrollierter ab als bei Personen mit einer Darmflora-Störung (Dysbiose). Forscher vermuten einen Zusammenhang zwischen unserer Darmflora und COVID-19.

Expertenwissen

Neuesten Forschungen zufolge könnten Dünndarmzellen (Enterozyten) als Reservoir für Coronaviren dienen. Rezeptoren für SARS-CoV-2, wie das Angiotensin-konvertierende Enzym 2 (ACE2), werden nicht nur in der Lunge, sondern auch in menschlichen Darmzellen stark exprimiert. Im Gegensatz zum Lungengewebe bleiben die potenziellen Rezeptoren in den Zielzellen im Dünndarm vermutlich konstant. Selbst wenn die Atmungsorgane bereits virenfrei sind, können aus dem Darm immer noch Viren abgegeben werden. Diese Forschungsarbeit wurde jedoch noch nicht von unabhängigen Gutachtern geprüft (peer-reviewed).

Auswirkungen von COVID-19 auf die Darmflora

Das Coronavirus beeinflusst vermutlich unsere Darmflora. Dies zeigen erste Untersuchungen mit Stuhlproben von COVID-19-Patienten. So führt eine Infektion zum Rückgang nützlicher Bakterien (vor allem Faecalobacterium (F.) prausnitzii, Roseburia und Lachnospiraceae). Gleichzeitig ist ein Anstieg schädlicher Bakterien möglich (wie Clostridium hathewayi, Actinomyces viscosus und Bacteroides nordii). Auch die Bakterienvielfalt nimmt ab. Zudem vermehren sich Pilze wie Candida albicans, Candida auris, Aspergillus flavus oder Aspergillus niger. Eine Überbesiedlung mit Candida albicans kann zu Darmpilz führen.

Die Ursachen für die gestörte Darmflora bei COVID-19 sind allerdings noch nicht genau erforscht. Erfahrungsgemäß stören Infektionen, eine geschwächte Darmfunktion und eine veränderte Nährstoffaufnahme wiederum die Darmflora. Außerdem dürfte laut Vorversuchen die Bildung von Eiweißen vermindert sein, die normalerweise gegen krankmachende Bakterien wirken.

Die Zusammensetzung der Darmflora hängt wahrscheinlich mit der Schwere von COVID-19 zusammen: Bakterien im Darm regulieren die Konzentrationen verschiedener Botenstoffe im Blut. Dadurch könnten sie das Entzündungsgeschehen sowie Marker für Gewebeschäden verringern.

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COVID-19 führt zu einer vermehrten Bildung von entzündlichen Botenstoffen (Zytokine). Im schlimmsten Fall kann dies eine potenziell lebensbedrohliche Entgleisung des Immunsystems hervorrufen – einen sogenannten Zytokinsturm. Forscher vermuten, dass eine gestörte Darmflora möglicherweise einen Zytokinsturm fördert. Dann könnten Probiotika Bestandteil der Therapie werden.

Probiotika als ergänzende Therapie bei COVID-19?

Probiotika enthalten Bakterien mit gesundheitsförderlichen Eigenschaften. Sie könnten die durch COVID-19 hervorgerufenen Entzündungen im Darm sowie im gesamten Körper lindern. Erste kleine Studien deuten darauf hin: Nahmen COVID-19-Patienten ein Probiotikum ein, besserten sich Magen-Darm-Beschwerden wie Durchfall schneller. Zudem war das geschätzte Risiko eines Atemversagens geringer. Bei einer Therapie ohne Probiotika mussten dagegen mehr Patienten auf die Intensivstation verlegt werden und es gab eine höhere Sterblichkeitsrate. 

In einer weiteren Studie verbesserte die Einnahme eines Probiotikums den Krankheitsverlauf. Auch wenn ein Jahr lang vor der Infektion regelmäßig ein probiotischer Joghurt gegessen wurde, kam es in einer anderen Studie zu einem leichteren COVID-19-Verlauf.

Vorsicht gilt jedoch bei schweren COVID-19-Verläufen und bestimmten Probiotika. Ein Fallbericht zeigt, dass zwei Patienten auf der Intensivstation eine Blutvergiftung (Sepsis) durch die Hefe Saccharomyces cerevisae bekommen hatten.

Derzeit wird der Einsatz von Probiotika bei COVID-19 in vielen laufenden Studien untersucht. Nach ihrer Auswertung kann besser beurteilt werden, ob Probiotika die COVID-19-Therapie unterstützen können. Möglicherweise lassen sich dann auch Einnahmeempfehlungen ableiten. Darüber hinaus ist auch ein schützender Effekt denkbar, sodass es erst gar nicht zu einer Erkrankung kommt. Denn Probiotika stärken unser Immunsystem.

Probiotika bei anderen Virusinfektionen

Bereits bekannt ist, dass Bakterien im Darm die Immunantwort nicht nur im Darm, sondern auch in der Lunge stark beeinflussen können. Bei anderen Viruserkrankungen sind Probiotika als unterstützende Behandlung sowie zur Vorbeugung bereits besser erforscht. Insbesondere Laktobazillen (wie Lactobacillus lactis) könnten bestimmte Immunzellen (dendritische Zellen) aktivieren und vor Grippeviren in den Atemwegen schützen.

Beispielsweise verringerten Probiotika bei übergewichtigen und fettleibigen Studienteilnehmern nach zwei Wochen die Beschwerden einer Virusinfektion in den oberen Atemwegen. Zudem gibt es Hinweise, dass Probiotika bei Personen, die beatmet werden, das Risiko für eine Lungenentzündung senken.

Nutzen von Probiotika nach überstandener Coronainfektion

Auch nach einer COVID-19-Erkrankung bleibt die Darmflora möglicherweise verändert. Ergebnisse einer Vorstudie deuten darauf hin, dass eine unterschwellige Infektion des Darms bei manchen Patienten bestehen bleibt – und zwar auch nach Abklingen der Symptome.

Daher könnten Probiotika auch im Hinblick auf Long-COVID (oder Post-COVID-Syndrom) eine Rolle spielen. Bei Long-COVID vermuten Wissenschaftler eine Fehlregulation des Immunsystems und anhaltende Entzündungsreaktionen. Abgeschlossene Studien zu Probiotika und Long-COVID gibt es jedoch noch nicht.

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Die Coronapandemie könnte sich auch indirekt auf die Darmgesundheit auswirken: Verschärfte Hygienevorschriften, verändertes Ernährungs- und Bewegungsverhalten aufgrund von Lockdowns sowie vermehrter Stress können zu lang anhaltenden Veränderungen der Darmflora-Zusammensetzung führen.

Fazit: Probiotika gegen Corona

Mikronährstoffe sind wichtig für ein starkes Immunsystem, das uns vor einem schweren COVID-19-Verlauf schützen kann. Auch die Darmflora spielt dabei eine bedeutende Rolle. Durch eine Coronainfektion ändert sich die Zusammensetzung der Darmflora nachteilig, was über die Erkrankung hinaus Folgen haben könnte.

Es gibt Hinweise, die für den Einsatz von Probiotika wie Laktobazillen und Bifidobakterien bei COVID-19 sprechen. Hochwertige Studien fehlen bislang, um allgemeine Einnahmeempfehlungen ableiten zu können. Forscher berichten jedoch in ersten Studien über Dosierungen und Bakterienarten: Eingesetzt wurden 1 bis 3 x 109 koloniebildende Einheiten von beispielsweise Lactobacillus plantarum, Lactobacillus rhamnosus, Lactobacillus acidophilus und Bifidobacterium lactis.

Da Probiotika allgemein als sicher und nebenwirkungsfrei eingestuft werden, kann die Einnahme bei COVID-19 versucht werden. Sicherheitshalber sollte jedoch der Arzt befragt werden – insbesondere bei einem schweren Krankheitsverlauf.

Verzeichnis der Studien und Quellen

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Über die Autorin

Dr. med. Elke Mantwill

Frau Dr. med. Mantwill ist niedergelassene Fachärztin für Allgemeinmedizin. Sie erwarb die Zusatzbezeichnungen in den Bereichen Ernährungsmedizin, Sportmedizin, Phlebologie und Akupunktur. Die Tätigkeitsschwerpunkte in ihrer allgemeinmedizinischen Praxis sind Ernährungs- und Sportmedizin. Seit 2000 beschäftigt sie sich mit der Orthomolekular-Medizin und ist seit 2002 als Referentin im Bereich der Ernährungs- und Orthomolekular-Medizin aktiv. Als begeisterte Ausdauersportlerin führt sie zudem Ernährungsberatungen für Leistungssportler durch.