Essstörungen und Darmflora – gibt es einen Zusammenhang?

Wie sich ein gestörtes Essverhalten und die Darmgesundheit wechselseitig beeinflussen können

Illustration eines Schädels, in dessen Gehirn ein von einem Maßband umwickelter Apfel liegt
Unsere Psyche wirkt sich auf unser Essverhalten aus. Liegt eine Essstörung vor, kann ein Ungleichgewicht der Darmflora entstehen. Beide Faktoren ­- die Essstörung und die gestörte Darmflora - verstärken sich dann wechselseitig. Bild: iStock.com/13-Smile

Ernährung und Körpergewicht haben Einfluss auf die Darmflora

Die Gesamtheit aller Bakterien im Darm (Darmflora) ist in den letzten Jahren in den Fokus der Wissenschaft gerückt: Bekannt ist, dass Übergewichtige eine veränderte Darmflora haben. Was jedoch unklar ist: ob die Fehlernährung zuerst da ist und dann ein Ungleichgewicht der Darmflora entsteht oder ob die Darmflora – umgekehrt – eine Fehlernährung fördert.

Für beide Theorien gibt es Hinweise. Es zeichnet sich vermehrt ab, dass eine Gewichtsabnahme die Darmflora wieder ins Gleichgewicht bringt. Die Darmflora scheint außerdem Einfluss auf unsere Psyche und Appetitregulation zu haben. Dies lässt vermuten, dass es hier Möglichkeiten gibt, um therapeutisch  zu unterstützen. Denn eines ist klar: Der Bedarf ist groß. Essstörungen und psychische Störungen treten immer häufiger auf.

Magersucht, Bulimie und Co. – ein Überblick

Essstörungen bedeuten, dass Betroffene ihr Essverhalten stark kontrollieren und einschränken oder aber die Kontrolle verlieren und übermäßig essen. Man unterscheidet folgende Formen von Essstörungen:

  • Magersucht (Anorexia nervosa)
  • Bulimie (Bulimia nervosa)
  • Binge-Eating-Störung
  • Mischformen

Magersucht ist durch eine starke Kontrolle des Essverhaltens gekennzeichnet: Betroffene verzichten auf Nahrung und verlieren dadurch stark an Gewicht. Dies kann im fortgeschrittenen Stadium lebensgefährlich werden. Trotz des niedrigen Körpergewichts fühlen sich Betroffene zu dick und haben Angst vor einer Zunahme. Das Hungern wird zur Sucht.

Diese Gefühle treffen auch auf Bulimie zu. Bulimiker leiden zusätzlich an Essanfällen und haben danach ein Verlangen, die aufgenommenen Kalorien wieder loszuwerden. Mögliche Wege sind Erbrechen, die Einnahme von Abführmitteln oder Hungerphasen.

Bei einer Binge-Eating-Störung leiden die Betroffenen ebenfalls unter Essanfällen. Anders als bei Bulimie wird nicht aktiv gegengesteuert, um eine Gewichtszunahme zu vermeiden. Daher führt Binge-Eating in vielen Fällen zu Übergewicht oder Fettleibigkeit.

Weiterhin gibt es Mischformen aus den drei definierten Essstörungen – oder aber Essstörungen, bei denen nicht alle Kriterien zutreffen.

Zusammenspiel von Darm und Psyche

Darm und Gehirn tauschen über unzählige Nervenzellen ständig Informationen aus (Darm-Hirn-Achse). Erste Studien zeigen, dass sich ein Ungleichgewicht des Darms (Dysbiose) auch auf die Psyche und die Stimmung auswirken kann. Es spielt sogar eine Rolle bei der Regulierung von Hunger und Sättigung: Ein Ungleichgewicht zwischen nützlichen und potenziell krankmachenden Bakterien setzt Mechanismen in Gang, die zur Entwicklung einer Essstörung beitragen können. Ebenso könnte dadurch eine Verbesserung der Essstörung erschwert werden.

Info

Häufig haben Essgestörte zusätzlich andere psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Zwangserkrankungen. Diese können sowohl Auslöser als auch Folge der Essstörung sein. Nicht selten verordnen Ärzte dann Antidepressiva. Diese können wiederum in den Mikronährstoff- sowie Bakterienhaushalt eingreifen und die Problematik der gestörten Darmflora verstärken.

Übersichtsarbeiten zeigen, dass Magersüchtige eine geringere Vielfalt an Bakterien im Darm haben (Diversität). Zusätzlich überwiegen ungünstige Bakterien, welche die Darmschleimhaut schädigen. Folgende Veränderungen der Bakterienstämme haben Forscher beobachtet:

Zunahme

Abnahme

Bacteroides

Firmicutes

Actinobacteria

Roseburia

Proteobacteria

Lactobacillus

Enterobacteriaceae

Streptococcus

Escherichia coli

Clostridium

Methanobrevibacter smithii

 

Daneben fehlen kurzkettige Fettsäuren, die normalerweise von den günstigen Bakterien gebildet werden – insbesondere Buttersäure (Butyrat). Kurzkettige Fettsäuren haben eine wichtige Funktion: Sie dichten den Darm ab und wirken entzündungshemmend. Ohne kurzkettige Fettsäuren (vor allem Buttersäure) wird der Darm undicht und es kann zu Entzündungen kommen. Dann gelangen fremde Stoffe in den Körper und ins Gehirn. Dort können sie die Nervenfunktion stören. Außerdem säuern kurzkettige Fettsäuren den Darminhalt an. In dieser sauren Umgebung vermehren sich ungünstige Bakterien kaum.

Der Missbrauch von Abführmitteln sowie das häufige Erbrechen bei Bulimie führen langfristig zur Reizung des Darms sowie zu Magen-Darm-Beschwerden. Dies dürfte sich auch negativ auf die Bakterienbesiedelung im Darm auswirken. Dazu liegen jedoch nur wenige Studien vor. Auch fehlen Daten zur Binge-Eating-Störung. Forscher fanden jedoch heraus, dass ein bestimmtes ungünstiges Bakterium (Escherichia coli) die Appetitregulation stört.

Expertenwissen

Escherichia coli produziert ein Protein (caseinolytic peptidase B (ClpB)), das bei Essgestörten in höheren Mengen ins Blut gelangt. Es wirkt wie ein körpereigenes Sättigungshormon (α-MSH, α-Melanozyten-stimulierendes Hormon). Hinzu kommt, dass der Körper unter Umständen in der Folge Antikörper gegen beide Proteine (ClpB und α-MSH) produziert. Dann würde α-MSH im Blut verschwinden und letztendlich wieder Appetit hervorrufen.

Allerdings kann noch ein weiteres Problem auftreten: Der Komplex aus Antikörper und Antigen (α-MSH) beeinflusst den entsprechenden α-MSH-Rezeptor. Dann wiederum kommt es entweder zu starker Sättigung oder zu starkem Hunger. Das hängt davon ab, welche Antikörper gebildet wurden. Dieser Mechanismus könnte auch eine Erklärung dafür sein, dass Magersucht zu Bulimie oder Binge-Eating-Störung werden kann oder umgekehrt.

Fazit: Unterstützen Prä- und Probiotika die Therapie bei Essstörungen?

Die Veränderungen der Darmflora durch Essstörungen können prinzipiell rückgängig gemacht werden. Zwar liegen noch keine gesicherten Daten vor, erste Studien zeigen jedoch bereits, dass man Gewicht und Appetit mit der Einnahme von Bakterien beeinflussen kann. Solche gesundheitsförderlichen Bakterien nennt man Probiotika. Bei regelmäßiger Einnahme bringen sie eine gestörte Darmflora wieder ins Gleichgewicht. Möglicherweise können sie auch Hunger und Sättigung positiv beeinflussen.

Häufig werden Probiotika mit Ballaststoffen (Präbiotika) wie resistente Stärke kombiniert. Ballaststoffe sind für den Menschen unverdaulich und gelangen unverändert in den Dickdarm. Dort dienen sie gesundheitsförderlichen Bakterien als Nahrungsquelle.

Ob Probiotika bei Essstörungen helfen, wird gerade untersucht. Möglicherweise helfen sie in Kombination mit Präbiotika, insbesondere wenn eine Entzündung des Darms vorliegt. Bei Darmflora-Störungen können daher Probiotika mit Laktobazillen und Bifidobakterien in einer Dosierung von 10 Milliarden koloniebildende Einheiten (KBE) pro Tag versucht werden. Zusätzlich bietet sich die Einnahme von bis zu 25 Gramm resistenter Stärke pro Tag an.

Jedoch ist es wichtig hervorzuheben, dass die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind. Nahrungsergänzungsmittel können in keinem Fall eine professionelle psychologische Behandlung ersetzen. Wenn eine Essstörung vorliegt oder bereits erste Anzeichen erkennbar sind, sollten sich Betroffene professionelle Hilfe suchen. Nahrungsergänzungsmittel könnten allerdings die Behandlung begleitend unterstützen.

Verzeichnis der Studien und Quellen

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Über den Autor

Niels Schulz-Ruhtenberg

Nils Schulz-Ruhtenberg ist niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin, Ernährungsmedizin und Sportmedizin.  Nach dem Medizinstudium in Göttingen, Hamburg und Südafrika spezialisierte er sich auf Präventivmedizin, Ernährungsmedizin und Sportmedizin. In seiner Hamburger Arztpraxis bietet er seit 2001 modernste medizinische Diagnostik und Therapie an in Sachen Ernährung, Mikronährstoffe, Gewichtsreduktion, funktionelle Medizin und Leistungsoptimierung im Job und Sport an. Schwerpunkte sind die Vermeidung und Linderung von lebensstilbedingten Erkrankungen durch ein effektives Gesundheits- und Selbstmanagement. Im Mittelpunkt stehen dabei oft die Verbesserung der Stresstoleranz sowie die Steigerung der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit durch natürliche nebenwirkungsfreie Methoden, z. B. durch eine optimale Nährstoffversorgung.